Die jüdische Überlieferung
Bevor die Juden den Glauben an den Alleinigen Gott annahmen, spielte die Magie in der Geschichte des Volkes eine große Rolle. In den überlieferten historischen Dokumenten, die den Stempel der monotheistischen Gottesauffassung tragen, sind Anspielungen auf magische Vorstellungen weitgehend ausgemerzt oder nur indirekt zu erkennen. Die Magie hat im monotheistischen Glauben keinen Platz. Die magische Literatur ist zwar verlorengegangen oder wurde zerstört. Doch auch die Bibel liefert eindeutige Beweise, dass bei den alten semitischen Völkern magische Praktiken sehr verbreitet waren. Das Volk hielt trotz der mosaischen Gesetzgebung an ihnen fest.
Vor allem in moderner Zeit hat man sich wieder eingehend mit der Magie im Pentateuch befasst und ist zu interessanten Ergebnissen gelangt. Wir verweisen besonders auf die Bücher Der eigene und der fremde Gott von T. Reik und Das Christus‑Dogma von Erich Fromm. In der Bibel spiegeln sich, wie eindeutig zu erkennen ist, zwei gegensätzliche Anschauungen wider, die auf unterschiedliche Quellen zurückgehen. Die eine ist der Elohist (von Elohim: die Götter), der unverkennbar sumerischer Herkunft ist. Er beweist, dass in ferner Zeit der Glaube an Götter und Dämonen verbreitet war. Die zweite Quelle ist der Jahwist (von Jahwe, dem tabuisierten Namen des Alleinigen Gottes), in dem die monotheistische Anschauung dargelegt ist. Im Pentateuch stoßen diese gegensätzlichen Richtungen häufig aufeinander. Die gesamte Bibel, aber vor allem der Teil sumerischen Ursprungs, enthält zahlreiche Hinweise auf magische Praktiken. Der Stab wird z. B. an vielen Stellen erwähnt. Er ist ein wichtiges magisches Instrument, das aus sich heraus Kraft besitzt. Der Prophet Elias erweckte mit dem Stab einen Toten zu neuem Leben. Viele rituelle Vorschriften haben magischen Charakter, z. B. das Verbot, die Bundeslade zu berühren. Wer gegen dieses Verbot selbst unbeabsichtigt verstößt, wird mit dem Tod bestraft. Uzziah, der die Bundeslade beim Transport stützen wollte, musste daher sterben. Viele Kinder Israels »wurden geschlagen, darum dass sie die Lade des Herrn angesehen hatten«.
Der Segen ist eine übertragene Lebenskraft und kann nicht rückgängig gemacht werden. Auf diese Weise erschlich sich Jakob den Erstgeburtssegen von seinem sterbenden Vater Isaak (l. Mose 27). Goldberg vertritt in seinem Buch Die Wirklichkeit der Hebräer die Meinung, der Segen stelle im Glauben der Alten eine magische Formel dar, deren unmittelbare Wirkung außer Zweifel stehe. Ein Segen, der durch Handauflegen oder Umarmung erteilt wurde, war eine Emanation der Lebenskraft. Die Berührung hatte seit frühester Zeit bei allen Völkern kraftübertragende Bedeutung. Sie konnte heilen, Schaden zufügen und töten.
ZEICHEN UND WUNDER
Die Beschreibungen von Wundern, othot (Singular: oth) und mophetim (Singular: mophet), in den Büchern Mose sind aus magischer Sicht von großem Interesse. Oth hat in der Bibel die Bedeutung eines besonderen Zeichens. Es ist das Zeichen, das der Herr auf Kains Stirn machte. Es ist das Blut, mit dem die Juden beide Pfosten an der Tür und die obere Schwelle an den Häusern bestrichen, bevor sie aus Ägypten zogen. Es ist der Sabbat in seiner umfassenden Bedeutung. Die ersten Wunder Aarons waren Zeichen. Der Stab verwandelte sich in eine Schlange und wurde wieder zum Stab. Die Hand wurde aussätzig und wieder rein. Das stetige Wunder, z. B. der Tod der Erstgeborenen, fällt dagegen unter den Begriff mophet.
Die Zauberer des Pharao sind ebenfalls in der Lage, Wunder zu vollbringen. Daher erkennt der Pharao dem Gott der Juden keine größere Kraft als dem Gott der Ägypter zu. Moses und Aaron als Vertreter des Gottes der Juden und die Zauberer des Pharao als Vertreter des Gottes der Ägypter stehen sich in einer Kraftprobe gegenüber. Der Pharao muss erleben, dass Moses Wunder vollbringen kann, die seine Zauberer nicht nachvollziehen können.
Wir begegnen in der Bibel immer wieder dem Blutopfer als einem wesentlichen Bestandteil des Kults. Es ist offensichtlich auf frühe magische Bräuche zurückzuführen. Das Tieropfer, das der Herr als einziges »gnädig ansieht«, wie über die von Kain und Abel dargebrachten Opfer berichtet wird (l. Mose 4, 3‑7), trat an die Stelle des ursprünglichen Menschenopfers und insbesondere der Opferung
der Erstgeborenen in vorgeschichtlicher Zeit. Das Blut ist der Lebensträger, und in ihm wohnt die Seele. Die Lebenskraft ruht nach primitiver Anschauung im wesentlichen im Fett. Blut und Fett sind daher bevorzugte Opfergaben. Da »des Leibes Leben im Blut ist«, ist es göttlichen Ursprungs, und »keine Seele soll Blut essen« (3. Mose 17, 11 u. 12).
Der Bericht von der Opferung Isaaks sagt ganz klar aus, dass die Opferung eines Tieres an Stelle des Menschenopfers vollzogen wurde. Die Beschneidung beinhaltet zweifellos typisch magische Wesensmerkmale (Blutopfer und Verstümmelung des Zeugungsorgans). Vermutlich handelt es sich dabei um einen frühen Brauch afrikanischer Völker und der Ägypter. Er wurde zu magischen Zwecken und zur Initiation vollzogen. Wahrscheinlich war die Beschneidung auch in Israel wie bei manchen Naturvölkern ein Übergangsritus, der vor der Eheschließung vollzogen wurde.
Nach altem jüdischem Gesetz ist die Beschneidung des Kindes am achten Tage nach der Geburt vorzunehmen. Dem Anschein nach war die jüdische Religion von Anfang an initiationsgebunden. Darauf deuten auch andere Praktiken hin, wie das Eremitendasein in der Wüste, die Verordnungen über die Speisen, die sorgsame Trennung nach Stämmen und vor allem die wiederholte Erklärung, dass die Juden das auserwählte Volk sind. Die magisch‑religiöse Lehre der Ägypter unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom jüdischen Glauben. Bei den Juden beschränkt sich die Initiation nicht auf eine kleine Gruppe von Anhängern, sondern das ganze Volk ist eine geschlossene Gemeinschaft von Eingeweihten. Die Vorschriften sind für die Allgemeinheit verbindlich, und alle müssen sie befolgen.
Weitere Ereignisse, die in der Bibel nachzulesen sind, wie die Anbetung des goldenen Kalbs und andere, sind so zu verstehen, dass das Volk am magischen Brauchtum festhielt. Zahlreiche Kultgegenstände sind von außergewöhnlicher Bedeutung und kommen in ihrer Funktion dem Talisman oder Amulett gleich. Die Tephillim z. B. werden an Lederriemen am Arm oder auf der Stirn getragen. Der Mezuzah wird über der Haustür angebracht und wehrt Unheil ab. Diese Gegenstände besitzen auf Grund des eingravierten Namens Gottes besondere Kraft. Die Vorstellung von der machtvollen Ausstrahlung des göttlichen Namens ist in allen Religionen anzutreffen.
DER TALMUD
In späterer Zeit lebte das magische Denken erneut auf und fand im Talmud seinen Niederschlag. Dieses Werk vermittelt ein umfassendes Bild vom geistigen und gesellschaftlichen Leben der Juden. Es ist eine Sammlung von Gleichnissen und Erzählungen, alten Lehren, Betrachtungen und Diskussionen, Stellungnahmen und Aussprüchen der Gelehrten Israels, die wahrscheinlich im 5. Jahrhundert v. Chr. zusammengetragen wurden. Wir finden im Talmud die althergebrachte Vorstellung, dass männliche (schedim) und weibliche (lilith) Dämonen Krankheiten verursachen können. Die Angina wird nach Ansicht einiger Lehrer durch einen bösen Geist hervorgerufen, der das Kind am Hals ergreift. Asthmaanfälle sind dagegen einem anderen feindlichen Dämon zuzuschreiben. Magische Worte, das Betreten bestimmter Örtlichkeiten sowie der Blick eines Fremden können schwere Erkrankungen oder Tod zur Folge haben. Die Heilung ist durch magische Formeln oder das Auflegen kleiner Pergamentzettel mit Bibelworten möglich. Der Talmud erwähnt auch die Heilkraft des Priesters durch Handauflegen. Dieses Werk enthält allerdings auch zahlreiche Beschreibungen rationaler Behandlungsmethoden.
Der Name ist nicht nur von großer Bedeutung, er ist auch auf bestimmte Weise zu nennen und mit heiligen Buchstaben oder Zeichen zu schreiben. Das zeigt sich immer wieder in den heiligen Schriften und Praktiken, die sich um sie ranken. Es ist streng verboten, das Tetragramm, d. h. den aus vier Buchstaben bestehenden Namen Gottes, auszusprechen. Dieser Name darf nur einmal im Jahr vom Hohepriester ausgesprochen werden. Er begibt sich dazu in den Tempel von Jerusalem und tritt vor die Bundeslade, in der der heilige, geoffenbarte Gesetzestext aufbewahrt wird.
Die Tabu‑Vorschriften sind sehr streng. Kadosch bedeutet unberührbar, »der Gottheit geweiht«. Das Wort kann zwei Bedeutungen haben. Es entspricht dem arabischen muharran, das hebräisch zu herem wurde. Der eigentliche Wortstamm von kadosch heißt geweiht, heilig; es ist das, was nicht berührt werden darf. Später nimmt herem den Sinn »exkommuniziert« an. Der Unberührbare und der Exkommunizierte sind aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. (In Indien dürfen sowohl der Paria wie der höchste Priester nicht berührt werden.)
DIE FREMDEN GÖTTER
Das mosaische Gesetz verbietet die Magie nicht wegen ihrer Unwirksamkeit, sondern wegen des Götzendienstes. Zahlreiche Textstellen geben zu erkennen, dass die magischen Praktiken durchaus als wirksam angesehen werden. Die Beschreibung der Hexe von Endor und die lange Liste der Strafen für Wahrsager mögen als Beispiel dienen. In anderen Versen heißt es, kein Zauberer und kein Magier dürfe den Geist des Drachen Python beschwören, und kein Jude dürfe seinen Sohn oder seine Tochter durch das Feuer des Moloch gehen lassen. Im Zweiten Buch von den Königen wird berichtet, wie der Zorn Gottes über den König Ahasja kam, da er Boten ausgesandt hatte, um Baal-Sebub, den Gott der Philister, um Rat zu fragen. Jeremias (Jeremias 27) befiehlt dem König von Juda und anderen Königen, sich unter das Joch Babels zu beugen, aber nicht den Propheten, Zauberern oder Weissagern zu gehorchen. Der Prophet Nahum sagt den Untergang der Stadt Ninive voraus, »um der großen Hurerei willen, der schönen, lieben Hure, die mit der Zauberei umgeht … und die mit ihrer Zauberei Land und Leute zu Knechten gemacht hat« (Nahum 3, 4). Maleachi schließlich prophezeit den Zauberern Strafe (Maleachi 3, 5).
Im Laufe der Jahrhunderte verblasste die Erinnerung an den Totemismus und an Menschenopfer. Die Opferung Isaaks, die Anbetung des goldenen Kalbs und vielleicht auch die Erwähnung der ehernen Schlange sind Überreste vergangener Zeit. Alle Bildnisse, die in den Gesetzen als Quellen magischer Praktiken galten, wurden verboten und die Totemgottheiten von ihrem Sockel gestoßen. Eines der gefährlichsten Wesen scheint Asasel (3. Mose 16, 10), der Wüstendämon in Bocksgestalt, gewesen zu sein, der Ähnlichkeit mit dem Stammes‑Totem besaß. Bei den Feierlichkeiten zum Versöhnungsfest wird ein Bock zu Asasel in die Wüste geschickt.
Es fand eine Reinigung der jüdischen Riten statt. Sie bewirkte eine stärkere Hinwendung zu dem Gott, der keine anderen Götter neben sich duldete und deren Bildnisse verwarf. Die Religion löste sich von der Magie und dem Dämonenglauben.
Der Monotheismus entstand nicht aus dem Misstrauen gegenüber der Magie, wie einige Autoren behaupten. Die Religion geht vielmehr mit der Entwicklung des kritischen Denkens einher. Sie ist das Bestreben des Menschen, den Teufelskreis zu durchbrechen, indem er das Gesetz einer ethischen Macht anerkennt. Die Schrift, die Worte, die Buchstaben des Gesetzes, die Gesetzestafeln und die Bundeslade wurden heilig und tabu.
In der Blütezeit des Königreiches Israel wurde die Magie bedeutungslos. Aus jener Zeit gibt es nur sehr wenige Hinweise auf magische Bräuche. Durch die babylonische Gefangenschaft und die Verzweiflung der langen Leidenszeit verfielen weite Kreise des Volkes wieder den magischen Denkvorstellungen. 458 v. Chr. wurde das jüdische Volk in einer politischen und tief religiösen Bewegung, die im Buch des Propheten Esra dargestellt ist, erneut auf die Befolgung der alten Gesetze verpflichtet. Die Vorschriften waren genau einzuhalten, die Vermählung mit fremden Frauen wurde verboten, und Mischehen mussten geschieden werden. Auf diese Weise sollte die Reinheit der jüdischen Religion und des Judentums wiederhergestellt werden.
DIE KABBALA
Die Magie lebte also teilweise in der Volksmedizin und im Volksglauben weiter. Später erfuhr sie durch Gelehrte, die sich eingehend mit dem Studium und der Auslegung der heiligen Schriften beschäftigten, eine Wende. Diese Menschen suchten nach einer geheimnisvollen, tiefgründigen Bedeutung. Die volkstümliche Magie trägt im Judaismus im wesentlichen die Züge der primitiven Zauberei. Durch die Gelehrten bekam die Magie einen mystischen und spekulativen Charakter. Sie vertieften sich in vielfältige und komplizierte Verknüpfungen und Kombinationen und gründeten ihre Deutungen auf Zahlen‑ und Buchstaben Systemen. Aus den Deutungen entstand eine Lehre von großer historischer Bedeutung.
Diese Entwicklung ist nicht so verwunderlich, wie sie zunächst erscheint. Die Mentalität der Inder äußert sich z. B. in einem überaus bildhaften Denken des Volkes, während die Chaldäer eher mathematischen Methoden zuneigten. Die ägyptische Mentalität wiederum wies eine starke vernunftbezogene Tendenz auf, die die Entstehung einer spekulativen Philosophie begünstigte. Die neue jüdische Magie entsprang ebenfalls einer spekulativen und kritischen Geisteshaltung eines Volkes, das zum Widerspruch und auch zur Mystik neigte. Seine Geschichte trägt den deutlichen Stempel der beiden großen assyrisch‑babylonischen und ägyptischen Geistesströmungen.
Es gibt mehrere Versionen über die Entstehung der Kabbala. Einige Kommentatoren behaupten, sie sei von den gefallenen Engeln überliefert worden. Sie schließen dies aus Genesis 6, 1, 5 und den Berichten des Buches Henoch. Dem babylonischen Talmud zufolge ist die Kabbala göttlichen Ursprungs. Der Legende nach soll der Gott des Sinai Moses nicht nur die Gesetzestafeln mit den eingemeißelten Geboten gegeben haben, sondern er verkündete ihm gleichzeitig ein mündliches Gesetz, das nur an die Eingeweihten weitergegeben wurde.
Im Grunde sollte mit der späteren Vertiefung der Legenden nur die Behauptung, die Kabbala reiche in ferne Zeiten zurück, untermauert werden. Es ist jedoch historisch, dass mündliche Überlieferungen über Jahrhunderte weitergegeben wurden und später im Sepher Jezirah (»Buch der Schöpfung«) und im Sepher Sohar (»Buch des Glanzes«) niedergelegt wurden. Der Sepher Jezirah entstand vermutlich im 6. oder 7. Jahrhundert n. Chr. in Mesopotamien. Der Sohar (der bereits im 3. Jahrhundert bekannt war) wurde wahrscheinlich von Moses de Leon (1250‑1305), einem spanischen Juden und Gelehrten, nach alten Quellen neu verfasst. Beide Bücher enthalten Gedanken und Überlieferungen der Mischna, die vermutlich im 2. Jahrhundert n. Chr. geschrieben wurde.
Die Kabbala beschäftigt sich in erster Linie mit dem geheimen und symbolischen Sinn der Worte des Alten Testaments, um die Weltschöpfung und das göttliche Leben zu ergründen. Im Sohar heißt es: »Jedes Wort des Gesetzes hat eine tiefere Bedeutung und enthält ein Geheimnis. Die Worte des Gesetzes sind nur das Gewand. Wehe dem, der das Gewand mit dem Gesetz selbst verwechselt. Die aber mehr wissen, sehen nicht auf das Gewand, sondern auf den Körper, der darunter ist. Die wahrhaft Weisen aber, die Diener des höchsten Königs, jene, die am Berge Sinai standen, sehen nur auf die Seele, die der wirkliche Grund ist. « Die Erklärung der Worte und Zeichen wurde zur Religionsphilosophie erhoben, die häufig im Gegensatz zur reinen heiligen Lehre stand. Hier tritt offensichtlich der Einfluss des Volkes zutage, mit dem die Juden enge Berührung hatten: den Babyloniern. Dieses System bemühte sich, die Vorstellungen anderer Religionen mit der jüdischen Gesetzeslehre in Einklang zu bringen.
Die Kabbalisten waren ein geschlossener Kreis von Eingeweihten. Eine Textstelle der Mischna lautet: »Es ist untersagt, die Schöpfungsgeschichte anderen Menschen zu erklären. Die Geschichte vom >himmlischen Wagen< darf niemandem erzählt werden, es sei denn, einem weisen Manne, der keiner Erklärung bedarf. « Die Eingeweihten, die Mekubalim, stellten stets eine sehr kleine Gruppe dar. Der Sohar berichtet von Zusammenkünften, an denen nicht mehr als sieben Personen teilnehmen durften. Jeder musste schwören, die Geheimnisse nicht preiszugeben.
Das kabbalistische Deutungsverfahren bestand ursprünglich darin, die Konsonanten der Worte auf verschiedene Weise mit Punkten zu versehen (im Hebräischen werden die Vokale durch Punkte wiedergegeben), so dass sich unterschiedliche Bedeutungen aus einem Wort ergeben konnten. Außerdem setzte man die Wörter in Zahlenwerte um. Da in der hebräischen Schrift jede Ziffer einem Buchstaben entspricht, konnte man für jedes Wort einen Zahlenwert errechnen. Addierte man die einzelnen Ziffern dieser Zahl (Quersumme), erhielt man eine neue Zahl. Es war also möglich, dass sich bei verschiedenen Wörtern die gleiche Quersumme, d. h. eine gleiche neue Zahl ergab. Diese Wörter waren nach kabbalistischer Anschauung austauschbar. Dieses System heißt Gematrie. Für das Wort ah(a)d (Einheit) und das Wort acb(a)h (Liebe) ergibt sich z. B. jeweils die Zahl 13. Daher kann man das eine an die Stelle des anderen setzen. Im ersten Buch Mose (Genesis 18,2) wird das Erscheinen von Engeln beschrieben. Die Worte dieses Verses ergeben die Zahl 70 1. Addiert man die Buchstaben der Namen Michael, Gabriel und Raphael, erhält man die gleiche Zahl. Daher behaupteten die Kabbalisten, die Namen der drei Engel seien in den Buchstaben der Verkündigung verborgen.
Ein anderes Verfahren trägt die Bezeichnung Notriqum (griechisch notarikon). Bei diesem Verfahren gilt jeder Buchstabe eines Wortes als Anfangsbuchstabe eines anderen Wortes, so dass sich aus einem einzigen Wort ein vollständiger Satz ergibt. Das erste Wort der Bibel ist bereschid (am Anfang). Die Kabbalisten, die jeden Buchstaben als Anfang eines neuen Wortes sehen, deuteten daraus: »Am Anfang erkannte Gott Israel in der Thora an. « Dies weist auf die Verkündigung der Gebote hin. Ein anderes kabbalistisches Verfahren beschreitet den umgekehrten Weg. Man bildet Wörter aus den ersten oder letzten Buchstaben der Wörter eines Satzes. Man könnte es mit unseren heutigen Abkürzungen vergleichen, wie UNO oder DRG usw. So entsteht aus dem Satz des Deuteronomiums (5. Mose 30,12) »Wer will uns in den Himmel fahren?« das Wort Mila (Beschneidung), wenn man die Anfangsbuchstaben aneinander reiht. Die letzten Buchstaben dagegen ergeben Jahwe, den Namen Gottes, der nicht ausgesprochen werden durfte. Anhand dieser Deutungsmethode schien bewiesen, dass Gott selbst die Beschneidung als Zeichen des auserwählten Volkes gebot.
Im dritten Verfahren, dem Temurä, werden verschiedene Buchstaben nach einem bestimmten System gegeneinander ausgetauscht. Für die jeweiligen Buchstaben Entsprechungen gibt es eine besondere Tabelle. Nach einem ähnlichen Verfahren werden die Buchstaben des Alphabets in neun Gruppen eingeteilt und können durch Punkte oder Zahlen derselben Gruppe ersetzt werden. Hierbei sind zahlreiche Umstellungen und Kombinationen möglich, die der Ausgangspunkt für weitere Deutungen sind. Die zehnstufige Hierarchie der Sephiroth, die die Urbestimmung aller Dinge beinhaltet, steht in der gesamten Kabbala an hervorragender Stelle. Die höchste Sephira oder 1. Stufe stellt den Alleinigen Gott, das Urwesen des Göttlichen, dar; die zweite Sephira entspricht dem Wort. Das Wort ist wie der Odem. Es ist eine Emanation des Geistes. Odem und Geist sind zwei Dinge, dennoch sind sie eins, da sie der einen Unwirklichkeit angehören. Der Geist verfügt über zweiundzwanzig Buchstaben (elfmal zwei), um Ausdruck zu werden. Es gibt zweiundzwanzig Wege der Weisheit, die in drei Gruppen unterteilt sind: die drei großen Wege, die sieben zweifachen Wege und die zwölf einfachen Wege. Es gibt drei Elemente (Feuer, Wasser, Erde), drei Jahreszeiten und drei wesentliche Körperteile des Menschen (Kopf, Oberleib und Unterleib). Die sieben zweifachen Wege sind die Eingeweide, die eine gute oder schlechte Funktion erfüllen; die sieben Planeten, die einen guten oder unheilvollen Einfluss ausüben; die sieben Tage und Nächte der Woche, die gut oder schlecht sein können; die sieben Tore der Weisheit, durch die das Gute oder das Böse eintreten kann. Die zwölf einfachen Wege sind die zwölf Monate des Jahres, die zwölf Konstellationen und die zwölf Tätigkeiten des Menschen. Es sind nach kabbalistischer Anschauung das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken sowie Sprechen, Essen, Zeugen, Bewegen und schließlich Zorn, Freude, Denken und der Schlaf.
DIE UNENDLICHEN METAMORPHOSEN GOTTES
Der Sohar befasst sich mit der Schöpfung und der Beziehung Gott‑Mensch. Gott wird als das »Geheimnis im Geheimnis« beschrieben, als das Unerkennbare. Der Glanz seines Angesichts erhellt vierhunderttausend Welten. Er schafft täglich dreizehntausend Myriaden Welten. Mit dem Tau seines Hauptes erweckt er Tote zu neuem Leben. Sein Angesicht ist dreihundertmal tausend Welten groß. Gott hatte nicht immer diese Form. Im ersten Teil des Sohar sind seine verschiedenen Ausstrahlungen dargestellt. Am Anfang war Gott en soph (das Eine und Unendliche), später offenbarte er sich nacheinander in den zehn Sephiroth. Die höchste Sephira ist Kether, das geistige Urbild, die Krone aller göttlichen Kronen, die auch Elion (»Ich bin«) genannt wird. Alle anderen Sephiroth sind Emanationen dieser höchsten Sephira. Die zweite Sephira ist Chochmah, die Weisheit, die aus der Krone Gottes hervorgeht. Die dritte Sephira ist die Vernunft. Diese drei Sephiroth sind die höchste Dreieinheit, das »dreifache Haupt«. Ihnen folgen alle anderen Sephiroth. Die Lehre von den Sephiroth, dem kabbalistischen Welten Baum, ist einsichtig. Die Sephiroth symbolisieren die Eigenschaften Gottes, die ideell auch im Menschen vereint sind. Der Mensch ist die Einheit der zehn Sephiroth, und er besitzt drei Seelen, die die höchste Dreieinheit darstellen, aus der alle anderen Seelen und Formen hervorgehen.
Dies ist die ursprüngliche Lehre der Kabbala, die in der Folgezeit jedoch unterschiedlich ausgelegt wurde. Die mittelalterliche Magie entlehnte der Kabbala viele Begriffe. Sie verwendete ebenfalls Zahlensysteme sowie geometrische Figuren und schrieb den Zahlen und Buchstaben symbolische Bedeutungen zu. Jede Zahl und jeder Buchstabe hatten in mehr oder weniger direkter Verbindung zu ihrem Sinn, in der Weissagung und Beschwörung eine besondere Bedeutung.
Die kabbalistische Mystik und alle ihr verwandten Richtungen beruhen auf Berechnungen und Kombinationen. In mystischer, spekulativer und analytischer Deutung versuchte man immer wieder, mit Hilfe der vermeintlichen symbolischen Bedeutung der Worte und Zeichen, das Geheimnis aller Dinge zu ergründen. Die kabbalistische Mystik sprengt den Rahmen der reinen Religion, sie ist sozusagen ein esoterischer Überbau der Religion. Die Magier und Anhänger geheimer Wissenschaften verwendeten in der darauffolgenden Zeit Worte, Begriffe und Symbole (Pentagramm oder Pantakel sowie Salomons Siegel usw.) der Kabbala, um übernatürliche Wesen anzurufen oder das Böse abzuwehren.
Die jüdische Magie entstand in vorgeschichtlicher Zeit und entfaltete sich ungefähr bis 700 v. Chr. Die von den Propheten verkündete Lehre war streng ethisch und monotheistisch. Sie lehrten, Opfer seien vergeblich, wenn der Mensch nicht reinen Herzens vor Gott trete. Mit dieser These wandten sie sich gegen die Magie. Das verheißene Königreich der Gerechten wird die Erfüllung der hohen Ziele des Messias sein. Wer verdient es, an der Spitze dieses Reiches zu stehen? Jener, der ohne Fehl ist, der Gerechtigkeit übt und der nie bösen Leumund redet, der seinem Nächsten nichts Böses will und den Armen bereitwillig gibt. Jesaja rief vor den Richtern von Sodom und Gomorrha aus: »Bringt nicht mehr Speisopfer so vergeblich…. Frevel und Festfeier mag ich nicht!«
Die Propheten verkündeten immer wieder die Lehre von dem einen Gott, und die jüdische Religion gewann allmählich ihre endgültige monotheistische und ethische Form. In der Volksmedizin lebte die Magie jedoch weiter. Die magischen Vorstellungen betrafen vor allem den Schutz gegen Krankheit und den Kampf gegen die bösen Dämonen, der allerdings nie eine zerstörerische oder schadenbringende Wende nahm.
Die jüdische Magie ist ihrem Wesen nach spekulativ und metaphysisch. Sie kommt vor allem in äußerlichen Handlungen und weit weniger in Denksystemen zum Tragen. Im babylonischen Exil und auch im Mittelalter wollte man den drohenden Gefahren und Verfolgungen entgehen und das Gefühl der Minderwertigkeit abstreifen. Man versuchte es nicht mehr in Auflehnung und Aufstand, sondern man hoffte auf den Messias. In dieser Hoffnung wandten sich die Gläubigen in fanatischem Eifer wieder den alten Glaubensvorstellungen zu. Der Satz »Ich bin Dein Gott« wurde zum Leitmotiv der Chassidim, deren Religionsausübung eindeutig magische Züge trug. Der feste Glaube an das geschriebene Wort und die Auslegung der Schriften blieb bestehen, daneben gewannen Symbole und Amulette wieder an Bedeutung. Die Talismane spielten vor allem als apotropäische Mittel eine Rolle. Man trug z. B. Lederkapseln an Gebetsriemen (Tephillim) auf der Stirn oder am Handgelenk, um die bösen Geister zu vertreiben. Der Mezuzah an der Haustür war ein Schutzsymbol. Die wundertätigen Rabbiner der jüdischen Gemeinden Russlands genossen hohes Ansehen. Sie leiteten und berieten die Gläubigen in allen Angelegenheiten. In den Schulen, Gemeinden und Familien herrschte ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Juden lebten im Bewusstsein der alten Überlieferungen und schlossen sich unter den strengen Gesetzen des zaristischen Russlands eng zusammen. Diesen Gesetzen zufolge war ihnen die Eheschließung mit Nichtjuden untersagt und jeglicher Raum für freie Entfaltung genommen. In diesem abgeschlossenen Sonderdasein gewann der Glaube großen Einfluss und ließ keine Kritik von außen eindringen. Die Autorität des Lehrers war absolut. Der Schriftgelehrte galt als heilig und wurde von allen hoch geachtet. Das Buch als Symbol übte eine stärkere magische und suggestive Kraft aus als das ethische Gesetz.