Die Welt der Magier
DER MENSCH IM ANGESICHT DES ÜBERNATÜRLICHEN
Furcht vor zwar entfernter, aber drohender Gefahr beherrscht die Welt der Magie. Da sie unbekannt ist, ist sie besonders gefährlich. Hauptziel jeden menschlichen Handelns ist es, schädlichen Elementen Einhalt zu gebieten oder sie zurückzudrängen. Der Mensch widersetzt sich ihnen, indem er feste Bindungen zu guten Elementen knüpft. Die Methoden dieses von der Angst geleiteten Selbstschutzes kamen ursprünglich aus der Überlieferung. Plinius schrieb, Magie fuße auf der empirischen Kenntnis der Medizin. In vielen Fällen kann man die Ursache des Bösen leicht ausmachen. Dies gilt vor allem, wenn der primitive Mensch die Gefahrensymptome schnell und leicht erkennt. Bei Verletzungen weiß er, wie er die Ursache des Übels beseitigen und die Heilung herbeiführen kann. Er entfernt einen Dorn, zieht einen Pfeil heraus oder löst einen Strick. Ihm ist auch bekannt, daß viele Krankheiten durch Parasiten oder gefährliche Tiere hervorgerufen werden. Also muß man sich von ihnen fernhalten, sich vor Berührung mit ihnen hüten oder sie töten. Der primitive Mensch kennt die Gefahren, die sich aus atmosphärischen Bedingungen wie Regen, Unwetter oder Blitz ergeben können. Er hat gelernt, in Höhlen, unter Laubdächern oder in abgeschlossenen Räumen Schutz zu suchen. Es ist also nur logisch, wenn allen Lebewesen und Dingen, die Böses bewirken können wie Dornen, Steine, Parasiten, Schlangen, Regen oder Blitz bewusste eigenständige Lebenskräfte zugesprochen werden. Der Mensch schließt alles in das Böse ein, das durch den Willen belebt ist, ihm zu schaden. Dazu gehören auch höhere Kräfte, die ihn verletzen könnten. Dem Menschen günstig gesinnte Wesen und Substanzen hält er gleichfalls für belebt: Sonne, Sterne, Haustiere, Pflanzen, schützende Kleidungsstücke und Ahnen, die ihn verteidigen oder anleiten. Diese animistische Auffassung ist ein möglicher Weg zur Magie.
Durch eine Entwicklung, deren einzelne Schritte nicht mehr nachzuvollziehen sind, hat sich eine komplexe, manchmal systematische Hierarchie mächtiger Wesen herausgebildet. Ihre Stärke und die von ihnen ausgehende Gefahr liegt in der Schwierigkeit, sie anzusprechen. Sie sollen dem Menschen und seinen Bedürfnissen unterworfen werden. In dieser Hierarchie nehmen Himmelskörper, vor allem die Sonne, den wichtigsten Platz ein. Jedes belebte oder unbelebte Wesen (d. h. alles in der Umgebung des Menschen mit den Sinnen Erfassbare oder durch Phantasie Zugängliche) hat seinen Platz. Die majestätischen Bäume mit ihrem herrlichen Blätterwerk oder die hohen Gipfel der unbezwingbaren Berge, die lange Schatten werfen und den Blick in die Ferne versperren, erscheinen dem Menschen wie wunderbare und unerklärliche Beispiele einer übermenschlichen Größe, die außerhalb seiner Reichweite liegt. Die wilden, tosenden Flüsse scheinen in ihren Fluten unendliche Versprechungen und unbekannte Gefahren mitzutragen. Den Menschen ängstigen auch die großen Blumen mit ihren lebhaften Farben und dem betäubenden Duft. Er fürchtet sich vor den tödlichen Giften in den Pflanzen, vor den Tieren, die ihm häufig physisch überlegen zu sein scheinen und es auch sind. Man denke nur an die wunderbaren Metamorphosen der Insekten, die perfekten Gemeinwesen bei Bienen und Ameisen, die Kraft der Vögel, sich in die Lüfte zu erheben, oder die Möglichkeit anderer Tiere, in der Tiefe des Erdreichs zu verschwinden. Auch unter Menschen gibt es große Unterschiede. Einer übertrifft den anderen, weil er besondere Fähigkeiten besitzt. Menschen mit besonders kräftigem Körperbau oder Verkrüppelungen, mit seltener Haar oder Augenfarbe, kurz Menschen mit physischen Eigenschaften, die sich von der Allgemeinheit abheben, sollen vom Guten oder Bösen gezeichnet sein. Sie besitzen die Fähigkeit, einen außergewöhnlich guten oder bösen Einfluss auszuüben.
DIE ALLIANZ MIT UNSICHTBAREN MÄCHTEN
Aus diesen Überlegungen kann ein Stammesmystizismus entstehen, der zu Aberglauben oder Rassenhass führt. Menschen anderer Rassen sollen gefährlich und schädlich sein, da sie sich durch die Farbe ihrer Augen, ihrer Haut oder andere äußere Merkmale zu unterscheiden scheinen. Sie weichen von der Allgemeinheit ab. Daraus erklärt sich die Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Rassen. In dieser primitiven Auffassung ist der Ursprung des Rassenhasses zu suchen, der sich unter bestimmten Bedingungen und zu bestimmten Zeiten deutlich und zu allem entschlossen äußert.
Ist der Mensch vom günstigen oder schädlichen, auf jeden Fall aber ausschlaggebenden Einfluß zahlloser äußerer Kräfte auf sein Leben überzeugt und kann keine Handlung dem Einfluß dieser Kräfte entzogen werden, versucht der Mensch mit allen Mitteln, stärker als sie zu werden, um sie zu lenken. Der Mensch hat Tiere gezähmt, weil er Waffen herstellen konnte. Er hat schwächere Menschen und Feinde besiegt, die eine Gefahr darstellten, und sie sich untertan gemacht. Er hat die Widrigkeiten der Natur bezwungen, indem er sich einen Schutz schuf. Die Möglichkeit oder die Notwendigkeit, ein Mittel zu finden, unsichtbare Feinde zu bezwingen, die man weder physisch beherrschen noch durch Waffen unterwerfen kann, tritt deutlich zutage. Außerdem muß das Leben des einzelnen oder einer Gruppe vor schädlichen Elementen geschützt werden. Diese Elemente bringen in mancherlei Hinsicht die gleichen Übel hervor wie jene, die von Kräften bewirkt werden, die dem primitiven Menschen schon bekannt sind, da er sie bezwungen hat. Sie begünstigen oder schützen die schädlichen Elemente. Defensive und Offensive bauen auf dieser Denkweise auf und werden damit begründet.
Es war also notwendig, Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt und alle wesentlichen Dinge zu schützen, auf die das Leben und die Kraft der Gruppe zurückgehen. Die phallischen Riten und die frühgeschichtlichen Monumente, die gigantische Fortpflanzungsorgane darstellen, beweisen, daß der Gedanke des Weiterlebens schon in ältester Zeit ein Eckstein der Gesellschaftsordnung war. Den Geschlechtssymbolen gab man schützende vorbeugende Kräfte. Die Magie setzt diese Waffen ein, um sichtbare und unsichtbare Kräfte zu identifizieren und zu zwingen, sich zum Nutzen des einzelnen oder der Gruppe zu verwenden.
DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL
Auf der Suche nach Schutz oder Ausflucht suchte der Mensch in den Geheimnissen des Lebens und Sterbens der Natur Beispiel und Warnung. Er schützte sein Leben durch laute und misstönende Geräusche, Feuer und grelle Farben. Dadurch wollte er sich Feinde fernhalten. Sie sollten bis ins Mark erschrecken. So wie man Tiere beruhigt oder selbst beruhigt werden will, versuchte der primitive Mensch, feindliche Kräfte günstig zu stimmen. Daher brachte er ihnen Speisen und tatsächliche oder fiktive Opfer dar. Diese Auffassung führte zweifelsohne zu zahlreichen Blutriten, vom Tieropfer bis zum Menschenopfer. Durch Musik oder die Nachahmung des Vogelgezwitschers wollte er die wohlwollenden Kräfte herbeirufen. Im Paläolithikum gab es die ersten Musikinstrumente aus Rentierknochen. Die magischen Praktiken wurden durch Händeklatschen oder das Rütteln von Holzstücken begleitet. Der Klang der Trommel, in der sich der Kriegsdämon versteckte, begleitete die Kämpfe. Kein Kampf konnte ohne magische Gesänge beginnen. Bei einigen polynesischen Stämmen beginnt der Hexer noch heute mit einem gesungenen Bericht über die ruhmvollen Taten. Es ist eine Reminiszenz an Gesänge der primitiven Dichter. Mittel, die einen Zustand der Verzauberung herbeiführen sollen, sind vielleicht eine willentliche oder auch unbewusste Nachahmung der Natur. Gleiches könnte man von dem häufigen und wunderwirkenden Gebrauch von Duftstoffen, Farben und allem sagen, was Zauber ausübt.
Die Erfahrung lehrt die Mittel, wie man feindliche Kräfte vertreibt. Sie lehrt auch, wie man Tiere erschreckt und schädliche Wesen oder übermenschliche Geister verjagt. Ein Kranker wird geschlagen, verletzt, geschüttelt, gebeutelt und mit drastischen Mitteln jeder Art behandelt, da man überzeugt ist, so den schlechten Dämon vertreiben zu können. G. Zilboorg hat die Aggression gegenüber Kranken und Irren in seiner Histoire de la psychologie erschöpfend behandelt. Diese Art der Behandlung des Irrsinns war noch vor zwei Jahrhunderten in den Anstalten für Geisteskranke an der Tagesordnung.
Ein früheren Hexern gemeinsames Verfahren war die Zerstörung des feindlichen Besitzes. Man versuchte, den Schatten zu treffen, verbrannte seine Haare und Nägel, schrieb seinen Namen und übergab ihn den Flammen. Außerdem zerstörte man sein Bild.
Man glaubte, feindliche Kräfte aufhalten zu können, wenn man ihre Aufmerksamkeit durch Taten oder Dinge plötzlich auf andere Objekte lenkte. Dies erklärt die Schutzwirkung, die Phallusabbildungen zugeschrieben wurde. Schon bei den Römern erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Man trug sie in verschieden geformten Amuletten. Eng mit dieser primitiven Idee verbunden ist das Verbrennen von Bildern oder Schriften, die gefährliche feindliche Kräfte darstellen. Diese Beobachtung konnte man auch bei Geschehnissen in jüngster Zeit machen. Bücher sind Feinde jeder irrationalen Richtung, denn sie stellen ein geschriebenes und unerschütterliches Gesetz dar, das nur schwer zu bekämpfen ist.
Kopfbedeckungen mit langen Federn, Kleidungsstücke in grellen und eigenartigen Farben ‑ die Uniformen der primitiven Armeen ‑ oder lärmende Begleitmusik sind andere Mittel, um die Identität zu ändern, den Feind zu erschrecken und einen aktiven und direkten Zauber auszuüben.
Eine andere, gleichfalls wichtige Methode der Selbstverteidigung ist das Verstecken oder Ändern der persönlichen Unterscheidungsmerkmale, wie es in der Natur geschieht. Dabei benutzt man eine Schutzfarbe und ahmt die Färbung der Umgebung nach oder man verkleidet sich. Vergangenheit und Gegenwart liefern zahlreiche Beispiele. Die Masken zur Veränderung der äußeren Persönlichkeit sind aus dem gleichen Gedanken entstanden. Auf diesen Ursprung gehen die häufigen Namensänderungen zurück, die in allen magischen und später aus ihnen abgeleiteten religiösen Praktiken von großer Bedeutung sind.
Da der Name den Platz des Individuums innerhalb einer Gruppe definiert und festlegt und da er es von den anderen abhebt, ist er von außerordentlicher Bedeutung. Der Name ist Wesen und wichtigstes Merkmal der Persönlichkeit. Eine Namensänderung ist folglich die tatsächliche und effektive Änderung der Persönlichkeit. Der primitive Mensch glaubt, durch die Namensänderung seien die Gefahren gebannt, die seine frühere Persönlichkeit bedrohten. Es gibt häufige und interessante Analogien zum Glauben der Kinder, die durch Namensänderung oder Verkleiden ein anderer werden oder sich unkenntlich machen wollen. Namen haben einen Zauber und mystische Kraft, sie sind gleichzeitig Wort und Symbol. Dinge und Menschen haben Namen: Häuser, Waffen, Flüsse und Berge. Die primitiven Völker geben dem Kind in einer feierlichen Zeremonie die Gaben des Vaternamens. Nach ihrem Glauben geht seine Seele oder ein Teil seiner Seele auf den Sohn über. Daraus ist der Brauch entstanden, dem Kind den Namen des Vaters oder Großvaters zu geben. Nach primitivem Brauch muß der Vater in das Gesicht seines Kindes hauchen. Die primitiven Stämme glauben an eine grundsätzliche Verwandtschaft von Namen und Jahr, Tag und Jahreszeit, zu denen der Name gegeben wird. Es gibt zahlreiche Beispiele für Geheimnamen, die nur dem Hexer oder Vater bekannt sind. Niemand soll den Namen kennen, damit das Kind nicht verhext werden kann. Diese Auffassung führte zu dem Verbot, den Namen der Götter auszusprechen. Ein Beispiel ist das Verbot der Bibel, den Tetragramm Namen Gottes auszusprechen. Verändert man den Namen oder lässt man ihn aus, kann man Gefahren bannen und das Schicksal zwingen.
DAS BILD BEEINFLUSST DIE SACHE
Magie ist in der Anlage und in ihren Praktiken dem Wesen nach analog und ahmt nach. Sie stammt aus dem Grundgedanken, es sei möglich, im Kampf gegen sichtbare und unbekannte Kräfte Ergebnisse zu erzielen. Zunächst muss man diese Ergebnisse wünschen und daran denken. Dann benutzt man die gleichen Mittel, mit denen man in ähnlichen Situationen, die durch bekannte Ursachen gegeben waren, bestimmte Ergebnisse erzielt hat.
Das kindliche Denken, das von diesem Prinzip beherrscht ist, liefert Analogien zur imitativen Magie. An dieser Stelle könnte ein noch heute praktizierter Brauch wilder Stämme angeführt werden. Um Regen zu erzeugen, schlägt man mit einem Stock in eine Pfütze und lässt das Wasser aufspritzen. Es gibt noch zahlreiche andere Beispiele. Hier sei vor allem auf Praktiken hingewiesen, die Schwangerschaft und Geburt erleichtern sollen (Bearbeitung des Bauchs einer schreienden Frau während der Geburt; Simulierung der Geburt; man versteckt eine Holzpuppe in der Nähe der werdenden Mutter; Simulierung des Säugens usw.). Alle direkten oder indirekten Beeinflussungen von Attributen (Schatten, Bilder, Namen usw.) sind Teil der imitativen Magie. Sie spiegelt sich in den Gedanken und Gesten von Kindern. Man findet sie auch in einigen Formen dissoziativer Psychopathie, bei denen jeder Akt gegen den eigenen Namen, den Schatten oder das Bild als schlecht und folglich als fatal angesehen wird. Diese Auffassung hat zu den strengen Verboten geführt, Bilder zu benutzen, Namen auszusprechen, Buchstaben zu schreiben usw.
Die analoge oder imitative Magie, die Frazer homöopathisch nennt, da seines Erachtens der Begriff imitativ einen bewussten Nachahmungsfaktor enthält, beruht auf folgendem Prinzip. Gleiche Dinge müssen gleiche Wirkungen hervorrufen. Die Praktiken des Primitiven und der Bewohner des alten Ägyptens und Babylons findet man heute noch bei den Polynesiern und Afrikanerfi. Wenn die nordamerikanischen Indianer das Bild eines Menschen in Sand, Asche oder Ton zeichnen oder annehmen, ein Ding sei eine Person, und wenn sie dann das Bild oder die Sache mit einem Stock schlagen, glauben sie, die Person zu verletzen oder zu töten.
Frazer weist auf eine andere Form der Verzauberung hin. Hierbei baut man eine dreißig Zentimeter hohe Figur aus Bienenwachs. Die Malaien glauben, wenn sie das Auge im Bild des Feindes durchbohren, werde dieser erblinden. Durchbohren sie den Kopf, wird er Kopfschmerzen bekommen. Durchstößt man das Bild vom Kopf bis zu den Füßen und hüllt es in ein Stück Leinen, als sei es ein Leichnam, und spricht man Gebete für die Toten darüber, muß der Feind sterben. Bei den Bataks auf Sumatra schnitzt die sterile Frau, die sich Kinder wünscht, die Holzfigur eines Kleinkindes. Wenn sie diese Figur gegen ihre Brust drückt, ist sie sicher, daß ihr Wunsch erhört wird. Wünscht sich eine Frau auf dem Barbar‑Archipel ein Kind, hält sie eine rote Stoffpuppe gegen ihre Brust, als wenn sie sie stillen wollte. Das gleiche Prinzip des Simulierens, das auch Kinder gerne verwenden, führt zu einem Adoptionsritus in Form einer vorgetäuschten Geburt. Auch ein Leichnam kann so zum Leben erweckt werden. Diodorus erzählt, Juno habe bei der Adoption des Herkules folgende Zeremonie eingehalten. Sie nahm ihn mit in ihr Bett, holte ihn plötzlich aus ihren Kleidern und ließ ihn zu Boden fallen. Damit wurde eine echte Geburt simuliert. Der Historiker fügt noch hinzu, daß die Barbaren noch zu seiner Zeit den gleichen Ritus befolgten, wenn sie Kleinkinder adoptierten. Dieser Brauch wird offensichtlich noch in Bulgarien und bei den bosnischen Türken eingehalten. Viele andere Beispiele könnten herangezogen werden.
Im Zusammenhang mit der magischen Vorstellung der Kraft der Bilder haben Akte der Liebe, des Mitleids oder der Feindschaft die gleiche Bedeutung und das gleiche Ergebnis, als wenn man auf die Person oder das Tier selbst einwirkte. Die Anbetung oder Verurteilung »im Bild« entsprechen dieser Anschauung. Dazu gehört auch das biblische Verbot der Bilderverehrung.
In der Vorstellungswelt des primitiven Menschen bedeutet Tod nicht Ende, sondern ist einfach ein Übergang von einem Seins Zustand in einen anderen. Der gestorbene Mensch braucht auch weiterhin Speisen und Getränke und muss die Aufgaben des materiellen Lebens erfüllen. Er kann fühlen und sehen, was sich bei den Lebenden abspielt. Er kann einen schädlichen oder guten Einfluss ausüben. Er ist häufiger schädlich als gut, da der Tote leben will und es ihn heftig drängt, Rache zu üben oder zu strafen.
Entsprechend diesem Glauben kann der Tote wie der Lebende an mehreren Orten zugleich gegenwärtig sein. Er kann als Phantom, Tier oder Pflanze erscheinen. Ist er unter der Erde, fühlt er Kälte und Feuchtigkeit und leidet darunter. Das Leben geht vor allem in den Knochen weiter, da sie langsamer verwesen. Man glaubt, der Schädel sei der eigentliche Tod. Man bittet ihn um Rat oder schickt flehende Bitten und Gebete zu ihm. In der Steinzeit war Trepanation an Verwundeten ein häufiger chirurgischer Eingriff zur Behandlung von Schädel Verletzungen. Wenn die Operation an Totenschädeln vorgenommen wurde (es gibt zahllose derartige Beispiele in Europa, Afrika und Mittelamerika), wollte man die Schädelstücke zweifelsohne als Amulett tragen, nachdem sie in runde Scheiben geschnitten waren. Man glaubte, der Besitz von Knochen, insbesondere Schädelknochen, der Ahnen verleihe dem Besitzer außergewöhnliche Kraft. Es wird ihm die Macht gegeben, die der Tote einst besessen hatte.
Dies erklärt die Bedeutung der Kopfjagd bei allen primitiven Stämmen. Bei einigen Völkern in Äquatorgebieten, die von Karsten beschrieben wurden, nimmt diese Jagd eine besonders interessante Form an. Der Besitz der »Tsantsas«, d. h. getrockneter und speziell bearbeiteter Köpfe, bedeutete Macht über die Toten.
Das Lebensprinzip kann auch in Teilen des Körpers und allem anderen liegen, das dem Toten gehörte. Die von Bruce beschriebenen Eingeborenen der Torresstraße glauben, das Wesen des Toten, das durch das Wort Keber umschrieben wird, sei nicht nur im Leichnam zu finden, sondern auch in allem, was bei den Begräbnisfeierlichkeiten benutzt oder was mit ihm begraben wird. Besitzt man einen Teil des Leichnams oder eine Beigabe, erhält man die Kontrolle über den Tod und kann seinen Einfluss bezwingen. Hieraus erklärt sich der Brauch, wonach alle dem Toten gehörenden Dinge, vor allem sein Haus, vernichtet werden müssen.
Die primitiven Völker sind daher wenig geneigt, das Erbe des Toten anzutreten. Eine Auswirkung dieses Glaubens ist der Brauch, alle Dinge, die dem Toten besonders lieb und kostbar waren, mit ihm zu begraben. Dadurch soll verhindert werden, daß er zurückkommt und aus Unzufriedenheit oder Neid nach ihnen verlangt.
Der Glauben vieler primitiver Gesellschaften, der Tote könne an zwei oder mehreren Orten erscheinen, hängt mit der weitverbreiteten Auffassung zusammen, das Lebensprinzip des Individuums könne ein vom Körper getrenntes Leben führen. Nach Meinung der alten Ägypter existierte »ka« oder die Lebenskraft weiter in der Nähe des Grabes und bewachte den Toten, bis ihm die entsprechenden Ehren erwiesen waren und er die nötige Nahrung erhalten hatte. Erst wenn der Körper vernichtet, verbrannt und die Asche in alle vier Winde verstreut war, konnte man den endgültigen Tod annehmen. Dann war der Tote nicht mehr in der Lage, dem Menschen zu schaden. Alles, was dem Toten gehört hat, behält dennoch seine Macht oder seine Eigenschaften. Aus dieser Überzeugung stammen unzählige Geschichten, z. B. die Sage des Schilds des Achilles, des Helms des Mambrin und viele mehr. Wird der Körper nicht vernichtet ‑ ja sogar wenn er vernichtet wird ‑, kann der Tote zurückkommen, um am Leben seiner Gruppe teilzunehmen. Wie zu seinen Lebzeiten wird er gut oder böse handeln. Er kann den Lebenden in verschiedener Gestalt und sogar an unterschiedlichen Orten gleichzeitig erscheinen. Manchmal nimmt er zugleich die Gestalt eines Tieres oder sein eigenes Aussehen an. Häufig erscheint er als Schlange. Der Schlangen tote kann den Lebenden seiner guten Absichten versichern. Man hält sein Erscheinen für einen Beweis seiner freundschaftlichen Absichten.
In primitiven Gesellschaften findet man eine komplexe Sicht der besonderen Lebensbedingungen der Toten. Sie leben in Gruppen, die nach den gleichen Prinzipien wie im Leben aufgebaut sind. Sie haben Ahnen und werden durch gleiche Gesetze beherrscht. Menschen, die ohne Nachkommen sterben, sind besonders bedauernswert, da niemand Gebete ‑ Anrufungen oder Beschwörungen ‑ für sie sprechen kann.
Solange es sich um primitive Mentalität handelt, darf man nicht von Unsterblichkeit, sondern muss von Oberleben reden, also von einem zweiten Leben, das dem ersten in vielerlei Hinsicht gleicht. Fast alle Stämme Polynesiens und Afrikas glauben, auch Tote sterben, könnten getötet werden und begännen in neuer Gestalt ein neues Leben. Die Reinkarnation, ein von vielen primitiven Gruppen vertretener Glauben, schließt den Lebenszyklus. Das Leben geht weiter. Eine Existenz geht in eine andere über.
DIE MACHT DER TOTEN UND DAS ÜBER‑ICH
Tote spielen eine große Rolle. Sie üben Einfluss auf das Leben aus, sind durch das Alter erfahren, haben Verdienste und Siege erworben. Auch besitzen sie die Macht und Geschicklichkeit, überall gegenwärtig und unsichtbar zu sein. Damit sind sie von ausschlaggebender und unkontrollierbarer Bedeutung. Den Primitiven drängt es entsprechend den Lebensumständen, ihr Eingreifen zu erflehen oder zu beschwören, zu wünschen oder zu fürchten. Er fühlt das Bedürfnis, seine Ahnen oder engsten Freunde zu Hilfe zu rufen, die (im Leben) gute Ratgeber oder treue Freunde waren. Er will sich ihrer in Augenblicken der Gefahr bedienen. Das Motiv ist gleichermaßen klar, das den primitiven Menschen veranlasst, die Totenerscheinungen zu beschwören oder zu versuchen, sie zu Fall zu bringen. Dabei fürchtet der Mensch immer, die feindlichen Geister verstorbener Feinde könnten erneut erscheinen.
Die Auffassung führt zum Wunsch ‑ besser zum Bedürfnis ‑, in direkte Verbindung mit den übernatürlichen höheren Mächten zu treten. Sie können in Träumen, Visionen und durch Krankheit oder Gift hervorgerufenen Halluzinationen oder unter dem Einfluss bestimmter Worte, Gesten oder Anrufungen in verschiedener Form erscheinen. Das wesentliche, grundlegende Ziel der Magie ist ihre Rückführung zu den Lebenden. Sie werden zu ständigen und gewohnten Partnern im täglichen Leben. Man will sie als Freunde im Glück und Unglück. Sind sie feindlich gesinnt, muss man sie vertreiben.
Der Mensch stellt sich vor, er höre die Stimme der Ahnen. Er widersetzt sich ihren Wünschen und Bedürfnissen oder bringt sie mit seinem Willen in Einklang.
Vielleicht versucht er auch, ihnen seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Auf jeden Fall ist er psychologisch nur das Werkzeug eines ständigen Kampfes zwischen dem bewussten Ich und dem archaischen Unbewussten. Hier hört er ständig die Stimmen der Vergangenheit. Sie ermahnen oder trösten ihn. Sie unterrichten oder drohen. Wie bei Träumen projiziert der Mensch Ereignisse, die sich in seinem Geist entwickeln, in die äußere Welt.
Hauptziel magischer Praxis, insbesondere der Beschwörung, ist demnach die Erinnerung und Identifizierung der Stimmen sowie die Erkenntnis des Aussehens der Toten. Bekanntlich haben Anrufungen, Beschwörungen und Exorzismen das gleiche Ziel. Man will die sogenannten geheimen Stimmen projizieren oder deutlicher machen, die jeder Mensch hört oder bei bestimmter geistiger Verfassung zu hören glaubt. Diese Stimmen sind Ausdruck der Ahnentraditionen, von vergessenen Bildern und Gesetzen, die in der Erinnerung verblasst sind. Der Mensch, der sie anrufen will, macht sich selbst aufnahmebereit, konzentriert sich auf seine innerste Persönlichkeit. Er hört in sich hinein. Es ist die Haltung eines Menschen, der in großer Stille einen geliebten Menschen ruft. Er weiß nicht, ob dieser fern oder nah ist, ob er dem Ruf der Stimme folgen wird oder nicht. Den Menschen erfüllt gleichzeitig Hoffnung und Furcht.
DIE BESCHWÖRUNG
Geister vertrauter Verstorbener, Freunde oder Feinde, Schützer der Gruppe, der Familie, des einzelnen, aller Lebenden und Toten soll man angeblich beschwören können. Die Beschwörung erreicht die geheimen und unbekannten Lebenskräfte, die in Himmelskörpern, Quellen, Flüssen, Bäumen, Bergen, in den Eigenschaften des Menschen und der Dinge liegen. Das Primitive und Unbewusste jedes Menschen glaubt an eine lebendige Kraft, die in jedem Lebewesen und in der Substanz des Kosmos ruht. Das Vorhandensein dieser Kräfte macht es folglich möglich, sie zu beschwören und zu erreichen, um sie günstig zu stimmen oder um sie zu bekämpfen.
In den magischen Praktiken aller Völker ist die Kraft des Namens so groß, daß man ihn nur aussprechen muß, damit die Person erscheint, der er gehörte. Daher ist es im allgemeinen untersagt, den Namen von Toten oder bösen Geistern auszusprechen. Hierauf beruht ein Brauch, der auch heute noch praktiziert wird. Er verbietet es, Personen zu nennen, die für ihr böses Geschick bekannt sind. Der Brauch schreibt Gesten vor, wie das Böse zu exorzieren ist, wenn der Name ausgesprochen wurde. Eine Folge dieser magischen Auffassung ist die Angst, die die orientalischen Völker: Araber, Türken, Juden und Inder gefangen hält, wenn ihre Kinder gelobt werden oder wenn der Name von Fremden ausgesprochen wird. Man fürchtet, die Namensnennung rufe den Neid und das Wirken feindlicher Geister hervor.
Die eigentliche Beschwörung wurde immer als Grundlage magischer Praktiken angesehen. An zahllosen Beispielen, die in neueren Werken angeführt werden und die Beschwörungen der Eingeborenen Haitis, des Zentrums des magischen Voodoo -Kultes, beschreiben, wird schlagend bewiesen, daß die Beschwörung wie alle magischen Riten einen besonderen Geisteszustand der Teilnehmer erfordert. In diesem Geisteszustand überwiegen die Gemütseigenschaften über die Vernunft. Es ist eine Erwartungshaltung gegenüber dem magischen Ereignis, dem Wunder. Hexerei durch ein beschwörendes oder erinnerndes Wort, der Zauber, der den Tod zwingt und der den Verstorbenen zur Rückkehr oder Annäherung an die Lebenden veranlasst, sind die Basis aller Methoden, die man jahrhundertelang zur Beschwörung eingesetzt hat. Man erzwingt eine direkte Berührung zwischen dem Bewussten und Unbewussten, zwischen der persönlichen Wahrnehmung des Ober‑Ichs des Individuums und dem kollektiven Unterbewussten. Daraus entsteht das Bewusstsein des Stamms. Die Beschwörung ist also nur die Objektivierung des brennenden Wunsches nach einem direkten Bezug zwischen dem Individuum und seiner Vergangenheit.
DER BESCHWÖRER
Die Magie aller Zeiten befasste sich neben der Totenbeschwörung mit der Beschwörung von bekannten und unbekannten Kräften aller Art. Die Beschwörung ist, wie der Name sagt, ein Schrei oder ein Ruf, bei dem die Stimme und der Name von wesentlicher Bedeutung sind. Folglich kann man alle lebenden Kräfte von Tieren, Pflanzen, Himmelserscheinungen (wie Licht, Dunkelheit, Feuer, Blitz usw.), Flüsse, Quellen, Berge und Sterne beschwören. Der primitive Mensch erkannte in seiner gesamten Umgebung eine höhere Macht, die er zu seinem Vorteil nutzen oder daran hindern konnte, sich gegen ihn zu stellen.
Aus dem Gesagten wird verständlich, daß sich für den Primitiven schon früh die Notwendigkeit gegeben haben muss, eine Hierarchie dieser Mächte festzulegen. Das Gesetz der Ordnung, des Systems, der Abstufung verschiedener Mächte ist zweifelsohne eine Voraussetzung, die sich aus den Bedürfnissen des Lebens ergab. Der Mensch wollte schon früh die Wesen unterscheiden, deren Einfluss eng begrenzt war. Er wollte auch jene kennen, deren Stellung im Kosmos ein Zeichen der Größe ihrer Macht war. Während sich die Kraft eines Tieres oder eines Feindes auf nahestehende Menschen oder eine Gruppe beschränkte, scheint die Macht der Sonne, des Blitzes oder der Sterne wesentlich größer gewesen zu sein. Daher nahmen sie auch die ersten Plätze in der Rangfolge ein und behielten diesen Platz in den ältesten religiösen Lehrgebäuden. Obwohl diese Strukturen auf einer komplexen Gedankenassoziation aufbauen und sich auf eine entwickelte Vernunft stützen, behalten sie in den wesentlichen Prinzipien die hierarchische Anordnung. Die fortschrittlichen Kulturen und sogar die monotheistischen Religionen weisen dieses Merkmal auf. Es erscheint in der Hierarchie der Heiligen, Engel und Teufel, in ihren Einteilungen und Unterteilungen.
Der Einsatz eines Mittlers, der diese Kräfte beschwört und ihre geplante Aktion nützlich machen soll, ist die Folge dieser Einteilung. Ein solches Wirken erfordert die Kenntnis zahlreicher Fakten, die Anerkennung mächtiger Kräfte, die genaue Einschätzung jener, die ausgewählt werden müssen, und schließlich die richtige Anwendung der notwendigen Mittel. Im weiten Feld der evokatorischen Magie ereignet sich die gleiche soziale Evolution wie in der Industrie und den bildenden Künsten. Zunächst war der Mensch Köhler und Schmied, Jäger und Erbauer von Palisaden, Bauer und Hirte. Mit der Erweiterung der Kenntnisse und der Verfeinerung der Techniken und mit der ständigen Ausweitung der Bedürfnisse bekam jedes Gruppenmitglied auch spezielle Aufgaben. Die Aufspaltung könnte man mit den Aufgaben der Zellgruppen bei der allmählichen Entwicklung eines Organismus gleichsetzen.
Der Beschwörer ist also ein Mensch mit dem nötigen Wissen, um die sichtbaren und unsichtbaren Mächte durch Taten und Gesten zu beschwören. Diese waren zunächst sehr einfach. Man rief einfach jene Mächte an, deren Wirken man wünschte. Zeichnungen primitiver Völker zeigen, wie die von Gesang begleiteten Gesten und Tänze diesem Ziel dienten. Diese und andere noch zu erläuternde Fakten beweisen, daß man Wörtern und rhythmischen Gesten in den evokatorischen Praktiken eine wesentliche Funktion gab. Der Rhythmus der Wörter oder der Bewegungen, manchmal langsam und monoton, dann wieder unharmonisch und grell, wurde immer als wesentliches Element der Beschwörung angesehen. Darin muß man vielleicht den Ursprung aller Beschwörungsformeln suchen. Sie bestehen aus rhythmischen und nicht endenden Wiederholungen der gleichen Worte oder von Worten in der gleichen Tonlage. Poesie und Musik stammen wahrscheinlich aus dieser Quelle, aus der Macht des Rhythmus, wenn man okkulte und ferne Mächte ruft.
Das Wirken eines Mittlers scheint also ein notwendiger Beginn zu sein. Entsprechend der Hierarchie der übernatürlichen Wesen hat sich logischerweise eine Hierarchie der Beschwörer herausgebildet. Sie haben entweder niedere Wesen unter ihrer Kontrolle, oder sie wenden sich an höhere Mächte. Ein klassisches Beispiel ist der biblische Bericht über die Magier des Pharaos. Sie wetteiferten mit Moses. Dabei stellte sich die Überlegenheit des Moses und der von ihm angerufenen Mächte heraus. Sie waren weitaus mächtiger als die der ägyptischen Magier, denen es nur gelang, ganz elementare Wunder zu wirken.
Die Beschwörung ist hauptsächlich die Erinnerung an die Vergangenheit, die Objektivierung eines Wunsches, die Projektion von Phänomenen, die sich im Individuum abspielen, sowie das Bedürfnis des Menschen, an seine Zukunft und an die Erinnerung von vergangenen Ereignissen anzuknüpfen. Die Erinnerung an die Vergangenheit nimmt die Zukunft vorweg. Die Beschwörung reicht von der magischen und rituellen Anrufung der Dämonen und Toten bis zu den modernen Erinnerungen an Gestalten und Ereignisse der Geschichte der Menschen oder Rassen. Der Geisteszustand während oder vor der Beschwörung, der zeitweise gegenwärtige Auffassungen und Personen mit dem lebendigen Bild der Vergangenheit überlagern kann, ist in den Abstufungen sehr unterschiedlich. Die Beschwörung bildet eine Brücke, schafft sogar ein gewisses Gleichgewicht in der ewigen Antithese von Bewusstem und Unbewusstem. Worte und Musik, magische Beschwörer und selbstsichere Zauberer dienen somit einem genau umrissenen Ziel.
Der Hexer oder Zauberer beschwört die Vergangenheit, um die Zukunft vorherzusagen oder zu versprechen. Er beschwört die Erinnerung an Böses und erlittene Schmerzen, an Bedrohungen des Individuums oder der Gruppe. Er betont, übertreibt sie, um das Bedürfnis nach Schutz oder Angriff zu beweisen. Die antisoziale magische Beschwörung, die durch Frustration geleitet ist und zu Aggression mit Rachegedanken oder Repressalien führt, um eine politische oder wirtschaftliche Herrschaft zu begründen, entspricht der totalitären Propaganda. Man denkt unwillkürlich an die Aufrufe während des Tausendjährigen Reichs: die Eroberung Roms, die jüdische Bedrohung, die imperialistische oder bolschewistische Gewaltherrschaft und dergleichen.